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Die Rettungsgasse

Die Rettungsgasse

Wir befinden uns an der Schwelle zu einem Dritten Weltkrieg, doch es führt ein Weg aus dieser geopolitisch misslichen Lage heraus. Exklusivabdruck aus „Systemversagen“.

Niemand will ernsthaft einen Dritten Weltkrieg und eine direkte Konfrontation der Großmächte, die gleichzeitig Atommächte sind. Dies hat sich seit Beginn des Kalten Kriegs, ja seit Ende des Zweiten Weltkriegs, nicht geändert. Doch was tun? Wie finden die Großmächte, von denen keine das Gesicht und ihre Position verlieren will, aus dieser Krise wieder heraus?

Dabei ist es vielleicht hilfreich, auf Persönlichkeiten zu hören, die selbst die Schrecken eines Weltkrieges am eigenen Leib erlebt haben. Der erfahrene Realpolitiker, der 99-jährige Henry Kissinger, der aus Nazideutschland fliehen musste, riet der Ukraine, Gebiete an Russland abzutreten, um ein Friedensabkommen möglich zu machen.

Eine demütigende Niederlage Russlands hingegen würde die Stabilität Europas langfristig in Gefahr bringen, warnte Kissinger. Europa solle seine Stabilität nicht wegen „ein paar Quadratkilometern“ im Donbass riskieren (1).

Kissinger betonte, dass eine Rückkehr der Ukraine zu den Grenzen nach 2014, also ohne die Krim, trotzdem „als substanzieller Erfolg für die Verbündeten“ gewertet werden könne, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehe. Denn die NATO wäre durch den Beitritt von Schweden und Finnland gestärkt und die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen geschützter. Und der Westen hätte Russland gezeigt, dass die Angst vor einem russischen Einmarsch, die seit dem Kalten Krieg in Europa herrscht, durch ein Eingreifen der NATO eliminiert werden kann. „Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte würde Russland mit der Notwendigkeit konfrontiert werden, mit ganz Europa zu koexistieren statt mit der Atommacht USA als Verteidiger Europas.“

Kissinger sieht generell nicht in Russland das größte Problem, sondern in China, in dessen Hegemonialbestrebungen und zunehmender aggressiver Außenpolitik. Generell ist für Kissinger in der Außenpolitik die Frage des Machbaren und des Vernünftigen wichtiger als die Frage der Moral. In seinem 2014 erschienenen Buch „Weltordnung“ definierte er die „Westfälischen Prinzipien“ als wirksamste Grundlage der weltweiten Beziehungen zwischen den Staaten. Der Westfälische Friede von 1648, der das Ende des Dreißigjährigen Kriegs markierte, hatte einer pragmatischen Anpassung an die Realität entsprochen und keineswegs einer einzigartigen moralischen Einsicht (2). Die aktuelle globale Weltgemeinschaft spiegelt das seiner Ansicht nach noch immer wider, indem der anarchische Charakter der Welt durch ein Netz internationaler Rechtsstrukturen gebändigt werden solle. Die Herausforderung bestehe nunmehr darin, dieses System weiterzuentwickeln und an die neuen Gegebenheiten anzupassen.

Ein weiterer Zeitzeuge des bisher letzten großen Kriegs ist Klaus von Dohnanyi. Er wurde 1928 in Hamburg geboren und war zeitlebens in verschiedenen Funktionen in der Politik tätig, unter anderem als Außenminister und Bürgermeister seiner Heimatstadt. Sein Onkel war der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer, der 1945 von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Sein Vater und seine Mutter waren ebenfalls in Kontakt mit dem Widerstand und wurden gleichzeitig mit Dietrich Bonhoeffer verhaftet. Hans von Dohnanyi wurde 1945 im KZ Sachsenhausen ermordet. Sein Sohn Klaus hatte somit die Gräuel von Krieg und Diktatur bereits als Jugendlicher miterlebt und erlitten. Seine differenzierten Analysen und Mahnungen haben daher nicht nur wegen seiner umfassenden Bildung, sondern auch wegen seiner persönlichen und politischen Erfahrungen ein besonderes Gewicht.

Bemerkenswert sind etwa jene Empfehlungen und Warnungen, die von Dohnanyi in einer Streitschrift zur aktuellen geopolitischen Lage abgab (3). So wertete er den Beschluss am NATO-Gipfel 2021, die Ukraine als Mitglied aufnehmen zu wollen und damit eine Absichtserklärung von 2008 zu bekräftigen, als unnötige Provokation. Russland habe immer klargemacht, dass dies eine „rote Linie“ sei. Die NATO würde von Russland seit der Zeit des Warschauer Pakts als Feind betrachtet, daher sei es vorhersehbar gewesen, dass Russland reagiere. Geopolitisch wäre es dann nämlich vom Schwarzen Meer abgeschnitten, und NATO-Basen wären in unmittelbare Nähe herangerückt, also fühle sich Russland bedroht.

Von Dohnanyi schrieb sein Buch im Jahr 2021, also noch vor dem Einmarsch in die Ukraine, aber nach der Annexion der Krim. Es habe seit dem Zweiten Weltkrieg nie Anzeichen und Beweise gegeben, dass die UdSSR und später Russland den Westen angreifen wollten. Daher, so von Dohnanyi, wäre für die Ukraine die Neutralität die beste Lösung, mit einer gleichzeitigen speziellen Sicherheitsgarantie, wie sie Finnland habe. Außerdem riet er zu intensiven Verhandlun­gen, um den Kalten Krieg nicht zu einem heißen Krieg werden zu lassen.

Nun, dies ist leider bereits geschehen. Es geht jetzt darum, dass dieser nicht eskaliert. Eine Deeskalation sei im unmittelbaren Interesse Europas, nicht jedoch der USA. Denn für von Dohnanyi ist klar: „Nicht Europa zählt im Falle eines russischen Angriffs, sondern nur die Sicherheit der USA!“ Ein Krieg zwischen den USA und Russland würde jedenfalls auf europäischem Boden ausgetragen. Die in Europa stationierten Nuklearwaffen würden keinen Schutz bieten, sondern dienten ausschließlich der Verteidigung der USA, wenn diese angegriffen würden.

Diese Empfehlungen und Analysen sind umso bemerkenswerter, als beide Politiker den USA gegenüber im Grunde positiv eingestellt sind; Kissinger ist sogar selbst US-Bürger und hat als Flüchtlingskind diesem Land viel zu verdanken. Sie sind also keinesfalls verdächtig, einem plumpen Antiamerikanismus zu huldigen. Und die USA haben für die Befreiung und den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg Enormes geleistet.

Dennoch: Bedenkt man die Einschätzungen dieser beiden erfahrenen Politiker und Strategen, dann sollte Europa schleunigst seine eigenen Interessen in den Fokus rücken und einige wichtige Schlüsse daraus ziehen. Einer davon ist, und dies wird zunehmend thematisiert, dass sich Europa militärisch emanzipieren und eine eigenständige Verteidigung installieren muss. Die NATO sollte nicht erweitert, sondern aus europäischer Sicht eher rückgebaut werden, da sie unter der Dominanz der USA steht.

Ferner sollte Europa auf eine diplomatische Lösung im Ukrainekrieg dringen und die Sicherheitsinteressen Russlands respektieren. Dies bedeutet, dass nur eine neutrale Ukraine infrage kommt.

Die Militärbasen der USA in Europa, wie etwa in Deutschland, Italien, Rumänien und dem Kosovo, sollten in eine EU-Verteidigungspolitik eingebunden werden. Die dort stationierten Atomwaffen sollten rasch entfernt werden, noch dazu, weil sie nicht im Einklang mit dem Atomwaffensperrvertrag stehen. Derzeit sind sie weniger Schutz als Gefahr für Europa. Und schließlich muss Europa erkennen, dass seine Interessen und jene der USA sich nicht immer decken, sondern mitunter konträr sind. Dies bedeutet, dass man durchaus echte Partnerschaften eingehen kann, jedoch auf Augenhöhe und bei voller Mitbestimmung. Die Nachkriegsordnung, in der Europa ein Vasall der hegemonialen Interessen der USA war, sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Eine multipolare Weltordnung bedeutet, dass nicht nur China und Russland mehr Bedeutung zukommt, sondern auch Europa. Denn gelingt dies nicht, wird Europa zwischen diesen Machtblöcken zermalmt werden. Und dies wiederum kann nicht im Interesse der USA liegen.

Michael von der Schulenburg, ehemaliger deutscher Diplomat und mehr als dreißig Jahre lang bei der OSZE und der UNO tätig sowie ausgewiesener Russland-Kenner, sieht dies ähnlich. Deshalb müsse Europa handeln, seine Interessen wahren und jene Russlands respektieren. „Letztendlich sollten die Interessen der EU gar nicht so weit von denen Russlands entfernt sein. Wenn man einmal von den vielen Hassreden über Expansionsgelüste Russlands oder einem irrationalen Verhalten Putins absieht, sollte doch Russland genauso wenig wie der Rest von Europa ein Interesse daran haben, sich gegenseitig mit immer neuen Atomwaffen und immer schnelleren hypersonischen (Hyperschall-) Raketensystemen zu bedrohen. Auch sollten beide Seiten kein Interesse daran haben, einen Krieg innerhalb eines europäischen Landes loszutreten, oder daran, die Ukraine mit immer mehr Waffen zu ‚versorgen‘. Wäre hier nicht ein Ansatz zu finden, um die sicherlich berechtigten Ängste der Osteuropäer vor einem erstarkten Russland und Russlands genauso berechtigte Angst vor einer militärischen Bedrohung seitens der NATO zu entschärfen? Nur braucht das eine Lösung, die frei von geopolitischen Überlegungen einer Weltherrschaft ist. Weder die EU noch Russland werden je eine globale Großmacht auf Augenhöhe mit den USA oder China sein. Vielleicht liegt gerade darin die Chance für einen innereuropäischen Frieden“ (4).

Es müsse daher nicht der Krieg, sondern das, was zu diesem geführt habe, gelöst werden. Denn der Krieg in der Ukraine sei das Resultat eines Versuchs der USA, nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa eine Sicherheitsordnung über die von ihr dominierte NATO und unter Ausschluss Russlands aufzubauen.

„Dabei spielten für die USA Bedenken über die Sicherheit Europas kaum eine Rolle. Es ging und geht fast ausschließlich um das geostrategische Ziel der USA, ihre nach dem Ende des Kalten Krieges gewonnene Position der allein dominierenden globalen Großmacht zu erhalten. Die Beitritte der Ukraine wie auch Georgiens zur NATO wären die Krönung dieser seit 1994 betriebenem NATO-Erweiterung nach Osten.“

Von der Schulenburg meinte, es könne nur Frieden geben, „wenn wir aufhören zu glauben, dass nur Waffen oder die Annexion fremder Landesteile einen Frieden bringen können, wenn wir akzeptieren, dass die Welt nicht nur dem Westen gehört, es keine alleinige Weltmacht USA geben wird und die Ausweitung der NATO nicht zur Stabilität in Europa beiträgt. Da Staaten hier versagen, kann nur eine erstarkende Friedensbewegung von Lissabon bis Wladiwostok etwas er­reichen. Nur gibt es diese Friedensbewegung nicht — zumindest jetzt noch nicht“ (5).

Und weiter: „Die USA verfolgen somit eigene machtpolitische und keine selbstlosen humanitären Ziele in der Ukraine. Die Ukraine ist nur durch ihre strategische Lage zwischen Europa und Asien zum Kriegsschauplatz geopolitischer Interessen geworden.“ Bei einer Friedenslösung würden daher die ukrainischen Interessen, trotz aller öffentlichen Solidaritätsbezeugungen, für die USA und die NATO nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Doch wer sollte diese Friedenslösung auf den Weg bringen? Michael von der Schulenburg sah hier für Frankreich und Deutschland eine wichtige Rolle: „Ein solches Vorgehen würde in Russland gewiss willkommen sein, und es ist zu erwarten, dass es mit einem Entgegenkommen in Fragen osteuropäischer Sicherheitsinteressen antworten würde. Für alle Seiten wäre bei einer Verständigung innerhalb Europas sehr viel zu gewinnen. Das gälte insbesondere für die Ukraine, die so die Möglichkeit bekäme, ihren inneren Frieden zu finden, ohne von geopolitischen Interessen anderer Länder zerrissen zu werden. Die Ukraine könnte zum ost-westlichen Bindeglied in Europa werden — eine Rolle, die ihr sicherlich viel besser stehen würde.“ Diese Einschätzung nahm er allerdings vor, noch bevor Deutschland Kampfpanzer lieferte, sich für die Interessen der USA einspannen ließ und somit die Chance vertan hatte. Leider hat sich Deutschland — nicht zuletzt aufgrund der Kriegsrhetorik seiner Außenministerin — als Vermittler disqualifiziert und sich militärisch gefährlich exponiert. Dennoch ist für von der Schulenburg eines klar: „Einen wirklichen Frieden in der Ukraine und damit auch in Europa kann es nur geben, wenn es möglich würde, eine neue, von der NATO weitestgehend unabhängige Sicherheitsstruktur in Europa zu errichten, um so, wie in der Paris Charter der OSZE von 1990 gefordert, ein gemeinsames Haus Europa ohne Trennlinien zu schaffen. Das ginge nur mit einer europäischen Sicherheitsstruktur, die Russland einschließt.“

Frankreich hatte tatsächlich einige Initiativen gestartet, um eine Eskalation zu verhindern. Präsident Macron führte zahlreiche Gespräche mit Präsident Putin, nach der Invasion in der Ukraine ließ er den Kontakt nicht abreißen. Vor der Invasion in der Ukraine hatte Präsident Putin bei einem gemeinsamen Pressetermin mit Präsident Macron in Moskau seine drei wichtigsten Sicherheitsforderungen erklärt: Stopp jeder künftigen NATO-Erweiterung, keine Raketenstationierung in der Nähe seiner Grenzen und Reduzierung der militärischen Infrastruktur der NATO in Europa auf das Niveau von 1997. Eine neue Sicherheitsarchitektur in Eurasien, die auch die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigt.

Das würde bedeuten, dass man auf eine weitere NATO-Osterweiterung und Militärbasen im Osten verzichten müsste. Der Westen müsste akzeptieren, dass man Russland nicht vom Schwarzen Meer abschneiden dürfe, und müsste Russland militärisch und wirtschaftlich leben lassen und nicht versuchen, es zu „besiegen“.

Die USA müssten akzeptieren, dass die Nachkriegsordnung mit der Vorherrschaft der USA endgültig zu Ende und eine multipolare Welt entstanden ist. In dieser gilt nicht das Faustrecht, sondern die Suche nach Partnern, mit denen man kooperieren und gemeinsame Interessen definieren muss. Somit bräuchte es eine Emanzipation Europas von den Interessen der USA, wenn diese ihm schaden, und mehr Eigenständigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. Gleichzeitig dürfe Europa aber China nicht unterschätzen, so wie bisher, um nicht einer weitaus gefährlicheren und aggressiveren Hegemonialmacht anheimzufallen. Denn bei aller Kritik handelt es sich bei den USA um einen demokratischen, freien Rechtsstaat, bei China um einen totalitären Staat, der Menschenrechte systematisch missachtet.



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Quellen und Anmerkungen:

(1) Interview mit dem Spectator, Juli 2022
(2) Kissinger, Weltordnung, Seite 11
(3) Dohnanyi, Nationale Interessen
(4) https://michael-von-der-schulenburg.com/in-der-ukraine-konn­te-das-fundament-fur-einen-europaischen-frieden-gelegt-werden/
(5) Vortrag am 11. Dezember 2022 in Kassel beim Bundesausschuss Friedensratschlag


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